Hilfsbuch zur Gründung,

Leitung und Kontrolle von Volksküchen

Lina Morgenstern

Die Volksküchen während der Teuerung von 1872 – 1877

Das erste Friedensjahr nach dem furchtbaren Kriege, dessen Erfolg unser teures Vaterland in den Vordergrund der Geschichte gestellt und eine völlige Umwandlung der inneren und äußeren Verhältnisse hervorgebracht hatte, war für den Vorstand der Berliner Volksküchen kein Jahr behäbiger Ruhe gewesen. Es galt Schwierigkeiten zu überwinden, von welchen man bisher unberührt geblieben, Sorgen zu überwältigen, welche man nicht gekannt und Befürchtungen zu hegen, gegen Gefahren, die aus den allgemein sich gestaltenden wirtschaftlichen Verhältnissen erwuchsen.

Die feindlichen Mächte, welche dem ruhigen Fortgang der Volksküchen, sowie allem Handel und Wandel gegenübertraten, waren andauernde Teuerung, Steigerung der Preise der Löhne und Miete und die allgemeine Wohnungsnot.

Zwei Küchen mussten während eines Quartals geschlossen werden, weil sie nach unmäßiger Mietsteigerung gekündigt waren, ohne dass man Lokale als Ersatz fand. Fünf Küchen wurden in andere Lokale der Mietsteigerung wegen verlegt, 2 Remisen mussten gemietet werden, um das Inventar von den 2 obdachlosen Küchen unterzubringen.

Da alle Bedürfnisse teurer wurden, musste man auch die Gehälter des Personals erhöhen.

Es wird wohl jeder Sachverständige erkennen, dass dies erst der Beginn einer Preissteigerung im geschäftlichen Verkehr war; nachdem sich am Schluss des Jahres schon ein Minus von 2.451 Mark herausgestellt hatte, mussten in Anbetracht des Prinzips der Selbsterhaltung die Portionenpreise erhöht werden.

Laut Vorstandsbeschluss wurden fortan ganze Portionen mit 25 Pfennig halbe mit 15 Pfennig bezahlt. Diese Erhöhung zeigte sich durchaus zeitgemäß; die Volksküchen wurden in diesem Jahre der Teuerung ein dringendes Bedürfnis, indem im Ganzen 2.229.510 Portionen vom Januar bis 31. Dezember 1871 aus denselben gekauft worden waren. Der Konsum vermehrte sich im Jahre 1872 und ergab am Schluss des Jahres die Summe von 2.315.637 verkauften Portionen, wobei ein kleiner Gewinn von 1.556 Mark 71 Pfennig verblieb.

Im Oktober 1872 wurde ich vom Verein der Volksküchen als Delegierte auf den Verbandstag deutscher Frauenbildungs- und Erwerbsvereine geschickt, der in Darmstadt tagte. Vom Großherzog Ludwig und der Großherzogin Alice von Hessen darum ersucht, hielt ich dort vor diesem Fürstenpaar und einem sehr zahlreichen Publikum einen Vortrag über die Organisation und Wirksamkeit der Volksküchen, welcher außer dem lebhaften Beifall, mit dem er aufgenommen, den glücklichen Erfolg hatte, dass ein Verein zu ähnlichem Wirken in Darmstadt zusammentrat und solche in Heidelberg und Karlsruhe angebahnt werden sollten.

In Nancy nahm ein französisches Damenkomitee auf Veranlassung eines deutschen Militärbeamten, die Gründung einer Volksküche nach unserem Muster in die Hand. Auch von Antwerpen, Zittau in Sachsen, Sorau, Minden kamen Ersuchen um Belehrung über Organisation der Volksküchen.

Wie jedes Jahr wurde auch 1872 eine Herbstversammlung außer der Generalversammlung im Frühjahr gehalten, in welcher ich einen Vortrag über Studien in der Küche hielt, welche die Errichtung der ersten deutschen Kochschule von Küchenmeister Bethge zur Folge hatte, die mehrere Jahre im Lettehaus bestand.

So erfreulich dieses Jahr verlief, so sehr traurig begann das Jahr 1873 mit dem Verlust eines Mannes, dessen treue, liebevolle Hingebung von Gründung des Vereins an, bis zu seinem letzten Lebenshauch tatkräftig bewiesen worden war.

Josef Lehmann, der langjährige Leiter und Vorsitzende unseres Vereins, der hilfereichste Genosse, der unermüdliche Mitarbeiter, der wohlwollende, milde Freund, der Ermunterer und Förderer der Frauentätigkeit in unserem Verein und auf anderen Gebieten, – starb am 19. Februar 1873 – acht Tage vor seinem 72. Geburtstag.

Tief empfanden alle den harten Verlust. Am 5. April 1873 veranstaltete unser Verein dem Verewigten an seiner Generalversammlung eine Totenfeier, zu der ich die Gedenkrede hielt. Josef Lehmanns Geist und seine Taten lebten in dem Kreise fort, in dem er gewirkt und auf den Platz, den er so lange und würdig eingenommen, blickte jeder stets mit jener scheuen Ehrfurcht, die dem Andenken eines hervorragenden, weisen und werktätigen Mannes gewidmet ist.

Sechs Jahre lang hatte Josef Lehmann als Vorsitzender den Verein geleitet, diese Stetigkeit trug nicht wenig zu dessen gedeihlicher Entwicklung bei. Er begnügte sich mit der äußeren Vertretung und dem Vorsitz in der Sitzung, griff niemals hindernd in die Arbeiten der einzelnen Vorstandsmitglieder ein, sondern hielt an dem Prinzip fest, dass man Jedem, der sein freiwilliges Amt mit treuer Hingebung verwalte, ruhig vertrauen und gewähren müsse, wenn das selbständige Vorgehen zum Besten des Ganzen sich nur in den statutengemäßen Grenzen bewege. Drei Umstände waren es, welche Josef Lehmann das Wirken am Verein zur höchsten Freude gemacht hatten; das sittliche Verhalten der Speisenden, die ausdauernde Mithilfe der freiwillig mitwirkenden Frauen und die erfreuende ehrende Teilnahme, welche die Kaiserin Augusta dauernd den Berliner Volksküchen erwies.

Der würdige Nachfolger Josef Lehmanns wurde Herr Stadtrat Zelle, Landtagsabgeordneter, welcher dem Verein, mit seiner reichen Lebenserfahrung, seiner klaren Übersicht der Verhältnisse, seinem bestimmten und doch stets mild und taktvoll ausgesprochenem Urteil, als Vorsitzender bis zum April 1878 leitete.

Stellvertretender Vorsitzender wurde Herr Buchhändler Kaiser †. Herr Sonnenberg, der seit längerer Zeit Schriftführer des Vereins gewesen, übersiedelte 1871 nach Frankfurt a.M., an seine Stelle wurde Herr Dr. Blaschko gewählt, Herr Würtzburg † blieb Schatzmeister, Herr M. S. Meyer Kassenkurator an Stelle des 1871 ausgeschiedenen Herrn Salomon. Herr Th. Morgenstern blieb technischer Direktor, auch die Damen Lina Morgenstern und Mara Richter behielten ihre Vorstandsämter, statt Frau Marie Richter trat Frau Agnes Augustin ein.

in der VolkskücheUnter den Damen, welche im Jahre 1873 die Küche verwalteten, waren viele Veränderungen in den letzten Jahren vorgegangen. Dieselbe werde ich in einem folgenden Kapitel mitteilen.

Im Jahre 1873 hatten die Küchen den bis dahin höchsten Konsum: Zwei Millionen, sechshundert und achttausend, fünfhundert und drei (2.608.503) Portionen, so dass auch das Vermögen wieder zunahm und 58.686 Mark 64 Pfennig betrug.

Der Wechsel mehrerer Küchenlokale, bauliche Einrichtungen, erhöhte Miet- und Lohnverhältnisse, sowie eine fortwährende Preissteigerung der Lebensmittel nahmen die Kasse des Vereins stark in Anspruch und gaben am Schluss des Jahres 1873 zu allerlei Befürchtungen für die Zukunft Anlass.

Dies regte mich an, in der Herbstversammlung des Volksküchenvereins 1873 einen Vortrag zu halten: Was vermögen die vereinigten Hausfrauen gegen die andauernde und willkürliche Steigerung der Lebensmittel?

Bei dem lebhaften Interesse, welches dies Zeitthema erregte, war die im Rathaus tagende Versammlung überaus zahlreich besucht und der Vortrag brachte eine so große Bewegung in den verschiedenen Schichten der Gesellschaft hervor, dass man sich sofort zu gemeinsamen Vorgehen gegen die willkürliche Verteuerung während der Gründerzeit verband und so ging der »Berliner Hausfrauen-Verein« aus dieser Versammlung hervor.

Der Stand der Volksküchen war nach dem Rückschlag der Gründerjahre von 1874 bis 76 der ungünstigste. Das Jahr 1874 schloss mit einem verminderten Konsum, welcher jedoch immer noch 2.315.672 Portionen betrug, aber bei der Mietsteigerung und Verteuerung der Cerealien ein Defizit von 10.929 Mark aufwies, inklusive einer Abschreibung des Inventars von fünfzig Prozent. Der Konsum hatte sich im Gründerjahr und dem folgenden vermindert, weil die Arbeiter durch erhöhten Lohn besser gestellt waren, und sich nicht veranlasst sahen, eine Anstalt zu besuchen, gegen welche die Sozialdemokraten in ihren Versammlungen warnten als einem bürgerlichen Versöhnungsmittel. Noch mehr zeigte sich der Rückgang als in Folge massenhafter Überproduktion ein Rückschlag eintrat, viele Fabriken geschlossen wurden und viele tausende von Arbeitern Berlin verließen. —

Besonders ungünstig wurden die Lokalverhältnisse durch die hohen Mieten.

Ein normales Bild der Mietssteigerung jener Zeit gibt die 1. Küche, die dasselbe Lokal behielt:

Die Küche bezahlte:

498 Mark Miete1866 – 1869
600 Mark Miete1869 – 1872
1.200 Mark Miete1872 – 1874
1.350 Mark Miete1874 – 1875

Zweimal wechselte sie alsdann das Lokal und zahlte:

1.800 Mark Miete1875 – 1877
3.000 Mark Mieteseit 4 Jahren

Durch den notwendigen Wechsel der Lokale fanden in 10 Jahren 25 Umzüge und Umbauten respektive neue Einrichtungen statt, was stets große Kosten verursachten.

Die Gehälter der beiden Beamten im Büro erhöhten sich den jetzigen Lebensverhältnissen angemessen um mehr als die Hälfte, ebenso steigerte sich der Lohn für Hilfsfrauen, Kassiererinnen, Köchinnen und Wirtschafterinnen sowie für den Boten.

Eine besonders hohe Preissteigerung hatten in den Gründerjahren folgende wichtige Verbrauchsartikel erfahren:

Als im Jahre 1875 die neue Münzordnung und die der neuen Maße und Gewichte eingeführt wurde, ließ der Vorstand versuchsweise die halben und ganzen Portionen fallen und verkaufte fortan nur Normalportionen von ⅘ Liter Gemüse und 45 Gramm gekochtes Fleisch für 15 Pfennig Das Publikum zeigte sich mit dieser Neuerung zufrieden, doch sprachen mehrere der Speisenden den Wunsch aus, daneben Portionen mit vermehrter Ration Fleisch kaufen zu können. Diesem Bedürfnis zu genügen, wurde 1875 neben der Normalportion eine ganze Portion à 25 Pfennig, 1 Liter Gemüse mit 3 Stück Fleisch, also 135 Gramm gekochtes Fleisch eingeführt.

Seit der Verein Korporationsrechte (1871) erlangt hatte, war im ersten Jahre Justizrat Wiener, nach seinem Verzug von Berlin nach Leipzig in den folgenden Jahren bis zu dessen Tode Notar Levin juridischer Beistand der Generalversammlung. Später Justizrat Adel. Als Revisoren kontrollierten die Bücher Herr Apotheker Augustin und Kommerzienrat Jürst, letzterer bis zu seinem Tode im Jahre 1879, wo an seine Stelle Rentier Schäfer und nach dessen Tod Herr Jürgens trat; seit dessen Wahl in den Zentralvorstand fungiert mit Herrn Augustin H. Kothe ab Revisor.

Mit dem zehnten Jahre des Bestehens unseres Vereins, 1876, war der Höhepunkt der ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnisse für die Küchen erreicht, indem ein Verlust von 2.857 Mark zu verzeichnen war, wodurch das Vereinsvermögen sich bis auf 53.219 Mark vermindert hatte. Der Konsum betrug 1876 über 1.308.024 Portionen. Erst seit 1877 begann eine stetige Zunahme des Konsums und des Vereinsvermögens, das auch durch ein Legat von 1.380 Mark aus der Hinterlassenschaft des Herrn Julius Bentheim 1877 vergrößert wurde.