Die Volksküchen während der Kriegsjahre 1870 und 71
Französische Gefangene
Eines Tages hatte sich in der Stadt das Gerücht verbreitet, dass 2.500 Gefangene in einem Zuge bei uns anlangen sollten, unter ihnen das erste Mal 250 französische Offiziere. Bald war unser Güterbahnhof, sowie die Speisehalle von einer Menschenmenge derart belagert, da es uns selbst kaum möglich war, ein- und auszugehen, und obgleich von zahlreichen Schutzleuten, Wächtern und Soldaten cernirt [Absperrung, frz. cerner umzingeln], wussten sich immer mehr Menschen hineinzudrängen. Die Menge wuchs bis zur Beängstigung, als endlich der Pfiff den Zug verkündete, der dicht vor dem Schuppen an einer schmalen Rampe hielt; unter den mit größter Spannung ihm Entgegenharrenden befanden sich Damen und Herren aus der höchsten Aristokratie, die Häupter der Behörden und viele Professoren und Künstler, aber auch sie standen eng eingeklemmt, ohne vor oder zurück zu können.
Ab die Franzosen aus den Wagen gebracht wurden, in denen sie eng zusammengedrängt gesessen, herrschte eine Luft in unserem Speicher, die das Atmen erschwerte. In einem Raume, der sonst kaum 2.000 Menschen fassen konnte, befanden sich gegen 6.000. Mit unsäglicher Mühe vermochten wir die Ordnung der Bedienung aufrecht zu erhalten: es war ein Glück, dass jeder Tisch seine bestimmten Damen und Herren hatte, welche, an demselben feststehend, unbekümmert um Stöße und den Lärm der Menge das Gemüse auffüllten und Portionen verteilten.
Dazwischen galt es, den Unglücklichen beizustehen, welche verschmachtend und sterbend in den Wagen lagen; um einem derselben ein verlangtes Glas Wasser zu bringen, bahnte ich mir den Weg über Tische, an denen die Gefangenen speisten, als plötzlich zur Abfahrt geblasen wurde und ein solches Gewühl von hinein- und hinausströmenden Menschen entstand, dass ich in Gefahr war, erdrückt zu werden, wären nicht in diesem Augenblick zwei Retter, die Herren Bauinspektor Sebald und Hauptmann zu Putlitz, erschienen, welche meine Hände erfassten und mich mit vorwärts zogen, denn an ein Zurück war nicht mehr zu denken. Auf die schmale Rampe gedrängt, standen wir eingeklemmt, zwischen den abziehenden Franzosen und unseren in Reih und Glied stehenden Soldaten, welche mit ihren Bajonetten das neugierige Publikum fernhalten mussten. Plötzlich ließen die Herren meine Hände los, da die Dienstpflicht sie an die Spitze des Zuges rief, wo Unordnung entstanden war, und so stand ich, die einzige Frau, verlassen und schutzlos, von allen Seiten gequetscht und gestoßen. Vorüberziehende Franzosen riefen mir zu: »Mon Dieu, comme vous êtes en danger, madame, nous voulions bien vous en délivrer«, während ich umsonst die Hilfe unserer Soldaten anflehte, die, der eisernen Disziplin gehorchend, mir zuriefen: »Durchlassen ist unmöglich!« Jetzt entstand vorn eine lebhafte Bewegung, wodurch der Strom und ich schnell mit ihm vorwärts gerissen wurde, die Treppen des gedeckten Perrons [Bahnsteig] hinab. Aber in diesem Augenblick gab es einen Platzregen, wie ich ihn noch nie erlebt, ein wahrer Wolkenbruch stürzte sich auf das ganze groteske Schauspiel. Ich stand wie vom Blitze getroffen an einen Balken gelehnt, während die Franzosen in die Wagen hineingeschoben wurden und das sich noch immer unvernünftig drängende Publikum mit Kolbenstößen zurückgedrängt ward. Während ich eben noch in Fieberglut mich befunden, wurden jetzt alle Glieder vom Frost geschüttelt, als der strömende Regen meine Kleider bis auf die Haut durchnässte. Flehend bat ich die Soldaten. mich über die Rampe zu heben, da es unmöglich war, die Treppe zu erreichen. »Wir dürfen die Bajonette nicht fortstellen«, war die beständige Antwort, bis endlich ein mitleidiger Bürger sich durchdrängte und mich hinaufhob, wo auf einer engen Plattform an zwanzig Menschen dicht zusammengedrängt mir kaum so viel Platz ließen, um vorn über die Galerie gebeugt noch atmen zu können. Plötzlich ertönte Geschrei, die Zusammengedrängten hatten die Tür eingedrückt, welche sich hinter uns befand, die sich öffnete, um die Eindringlinge zurück und die Treppe hinunterzustoßen. Ich aber vermochte dadurch wieder frei aufzuatmen und durch die Tür einzutreten. Ich befand mich im Wachtraum der Schutzleute. Es war dies die äußerste Spitze unseres Güterschuppens. Entsetzt betrachteten die Männer des Gesetzes mein verstörtes Aussehen und zeigten mir den nächsten Weg zu unseren Räumen. Meiner Sinne kaum mächtig, durcheilte ich die langen Gänge des Güterschuppens ohne in der allgemeinen Aufregung beachtet zu werden.
Endlich sah mich Fräulein Therese Daniel, sie erkannte mich und geleitete mich erschrocken in die Speckkammer, wo sie mich, die halb Ohnmächtige, abrieb und umkleidete. Die allgemeine Aufregung war so groß dass Niemand meinen entsetzlichen Zustand beachtete. Ich selbst glaubte ihn überwinden zu können, und setzte mich an den Bestelltisch, um Aufträge für den anderen Tag zu geben, bis endlich alle Kräfte wichen und ich des Nachts nach Hause gefahren werden musste. Aber während alle glaubten, dass ich nach diesem Vorfall mindestens ein Nervenfieber davon tragen werde, erschien ich zum Erstaunen der Komiteemitglieder 6 Uhr morgens wieder im Güterschuppen, um mit ihnen Mühsal und Arbeit zu teilen.
In jener Zeit hieß es auch unter allen anderen Fabeln und Gerüchten, dass die Turkos diejenigen zu töten und zu verwunden gesucht, welche sie verbanden; unsererseits war niemals eine solche Erfahrung gemacht, vielmehr beobachteten wir, dass gerade diese wilden Söhne Afrikas jede Hilfeleistung mit bescheidenem Dank annahmen und immer wieder sagten: »Maman, maman, merci!« So erinnere ich mich eines komischen Augenblicks, wo Frau Gubitz einem leidenden Turkos aus ihrer Feldapotheke Brausepulver gab, was demselben sehr schwierig beizubringen war, weil er sich davor fürchtete; dann aber grinste er dankbar. Ein anderes Mal stieg ich zu zwei schwerverwundeten Turkos in den Wagen um sie zu verbinden, als plötzlich der Zug sich in Bewegung setzte und ich bis zum nächsten Haltepunkt mitfahren müsste, ohne dass die Söhne Afrikas das Messer gezückt hätten. — Zu welch übermenschlichen Leistungen das Mitleid die Frauen anregte, zeigten zwei Damen, Frau Geheimrat Rothert † und das schon genannte Fräulein Th. Daniel später verehelichte Hauptmann Faure, die sich bis dahin gänzlich vom Verbinden fern gehalten hatten, weil sie gemeint, dass der Anblick der Wunden ihnen unerträglich wäre. Als aber in einer der Schreckensnächte die helfenden Frauen für die Menge der Verstümmelten zu wenige waren, und wir zu tun hatten, um denen beizustehen, die um uns her in ihrem Elend lagen, saßen und standen, und als man uns sagte, dass in den Waggons Schwerverwundete laut nach Hilfe riefen, da war jede Scheu von den beiden Damen gewichen; sie ließen sich alle Utensilien bringen, und als ich mit meinen Unglücklichen fertig war und eilte sie zu unterstützen, fand ich sie mit Geschicklichkeit arbeitend, um die eiternden Wunden auszuwaschen, und zu verbinden. Von diesem Augenblick an hatten sie ihren Widerwillen überwunden und vermochten ebenso jedem Unglücklichen beizustehen, wie die andern, unter denen ich mich gern der Damen erinnere, die sich durch besondere Ausdauer im Verbinden und Pflegen der Verwundeten auszeichneten, wie
- Fräulein Dehnicke,
- Frau Lossnitzer,
- Gubitz,
- Suter,
- Seeger,
- Frau Assessor Hirche
und die Herren
- Behrend
- und Hermann Puls.
Acht kaum zu beschreibende Tage und Nächte kamen die Verwundeten in immer trostloserer Verfassung in massenhaften Zügen bei uns an, viele sich verblutend, und immer wurde uns noch keine Hilfe von Seiten der Behörden zu teil, noch immer hatten wir weder einen abgesonderten Raum zum Verbinden, noch Lazarettgegenstände, die wir nicht selbst kauften, und die Kasse der freiwilligen Beiträge war gänzlich erschöpft. In einer Nacht kam ein Zug französischer Gefangener, die — vom Kriegsschauplatz her noch nicht, oder sehr mangelhaft verbunden waren.
Da fasste ich nach einer grauenvollen Nacht den Entschluss, mich um Abhilfe an den Zentralverein für Pflege Verwundeter zu wenden. Ich fuhr dorthin.
In den Räumen des Zentralvereins versammelten sich um mich die anwesenden Vorstandsmitglieder, unter denen ich mich erinnere,
- Exzellenz von Sydow †,
- Frau von Löwenfeld,
- Regierungsrat Hass †,
- Frau Geheimrat Nottebohm,
- Fr, Enslin †,
- Gräfin Oriolla †,
- und Hacke †,
- und andere.
gesehen zu haben. Diese alle hörten mit großer Teilnahme meiner Erzählung zu. Mein zerstörtes Aussehen nach einer Reihe solch entsetzlicher Nächte sprach mehr noch als meine Worte; ich sagte, dass schleunigste Hilfe auf allen Bahnhöfen für Verwundete nötig sei, wenn es überall so zugehe, wie bei uns.
Man war außerordentlich bereit, alle meine Wünsche zu befriedigen. Sofort wurden mir 1.500 Mark ausgehändigt, ich musste aufschreiben, was ich von Lazarettgegenständen verlangte. Zwei Möbelwagen wurden eiligst gefüllt, um Matratzen, wollene Decken, Bettwäsche, Hemden, Verbandszeug zur Bahn zu bringen. Aber mehr noch als dies, Gräfin Oriolla forderte mich auf, sofort alle die Übelstände und das erlebte Elend der Königin zu schildern.
So beschrieb ich sofort mit den einfachen Farben der Wahrheit die Zustände auf den Bahnhöfen. Gräfin Oriolla fuhr selbst mit meinem Briefe nach dem königlichem Schloss. Bis sie zurückkehrte, benutzte ich die Zeit, zu meinen Kindern nach Hause zu fahren, die ich immer nur kurze Momente sehen konnte. Zu Hause fand ich ein Schreiben aus dem Cabinet der Königin, die mir aus eigenem Antrieb 300 Mark zur Verpflegung der Truppen geschickt hatte. Als ich abermals nach dem Zentralverein kam, fand ich auch Gräfin Oriolla schon mit der Antwort vor, dass uns am selben Abend noch Hilfe werden sollte.
In der Tat erschien bei meiner Rückkehr nach dem Bahnhof ein Kammerdiener, der mir einen Brief aus dem königlichen Cabinet folgenden Inhalts brachte:
Geehrte Frau!
Ihre Majestät die Königin hat Ihr Schreiben empfangen und sofort die nötigen Schritte getan, um den von Ihnen gerügten Übelständen bei dem Transport der Verwundeten abzuhelfen. Auch beabsichtigt Ihre Majestät in den nächsten Tagen den Ostbahnhof wieder zu besuchen und die von Ihnen veranlassten Einrichtungen in Augenschein zu nehmen.
Ihre Majestät hofft also, dass Remedur [Duden: Beseitigung von Missständen] eintreten werde, nur was die Schwierigkeiten betrifft, die von den mangelhaften Dispositionen der Eisenbahnbehörden herrühren, so fürchtet Ihre Majestät hier nicht einwirken zu können. Indes will auch in dieser Beziehung Ihre Majestät versuchen, Abhilfe zu schaffen.
Hochachtungsvoll und ganz ergebenst
Brandis,
Königlicher
Cabinetsrat
Einige Stunden später erschien der Herzog von Ujest, um unsere Einrichtungen kennen zu lernen und im Auftrage Ihrer Majestät der Königin alle Anordnungen zu treffen, die wünschenswert waren, um die Pflege der Verwundeten zu verbessern. Er wurde Augenzeuge aller der von mir beklagten Übelstände.
Wir befanden uns in einer pestähnlichen Atmosphäre; um einigermaßen eine lebensmögliche Luft herzustellen, musste man fortwährend Zug durch entgegengesetzt geöffnete Türen erzeugen. In dem ganzen Raum war nicht ein abgeschlossenes Plätzchen, wo der traurige und oft die Scham verletzende Anblick der Verwundeten, deren Umkleidung notwendig war, vor den Augen des neugierigen Publikums hätte verborgen werden können.
Auf meinen Vorschlag ordnete der Herzog von Ujest an, sofort einen Teil des Güterschuppens auf dem Niederschlesischen Bahnhof als Verbandstätte abzuschlagen.