Hilfsbuch zur Gründung,

Leitung und Kontrolle von Volksküchen

Lina Morgenstern

Die Volksküchen während der Kriegsjahre 1870 und 71

Die Pflege der Verwundeten

In immer kleineren Zügen, in immer größeren Zwischenpausen langten die durchziehenden Truppen an; vom 22. Juli bis 2. August hatten 59.000 Mann in unseren beiden Schuppen gespeist.

Die Tätigkeit auf dem Niederschlesisch-Märkischen Bahnhof hörte fast ganz auf, dagegen begann auf dem Ostbahnhof eine große Mannigfaltigkeit von Beschäftigungen. Seeleute kehrten aus England in die Heimat, Deutsche aus Amerika, die sich zum Kriegsdienst melden wollten, waren unter dieselben gemischt, und da es fast Allen an Mitteln fehlte, hatte unser Verein Gelegenheit, aufs wohltätigste zu wirken.

Mit Spannung sah man den Nachrichten vom Kriegsschauplatz entgegen, Unruhe erfüllte die Gemüter, als die erste Depesche Nachricht von dem Kampfe bei Saarbrücken und Forbach brachte. Auch die zweite Depesche diente nicht dazu, die Herzen zu beruhigen, bis der glänzende Sieg bei Weissenburg einen überwältigenden Enthusiasmus hervorrief, zugleich aber auch die Sorge um die auf dem Schlachtfelde Gebliebenen und die heimkehrenden Verwundeten erweckte.

Von diesem Augenblick an begann für uns eine neue Tätigkeit. Es verstand sich von selbst, dass wir die Pflege der Kranken und Verwundeten übernahmen. Bereits am 6. August trafen einzelne Verwundete ein, die mit wärmster Teilnahme empfangen und verpflegt wurden.

Von Seiten der Behörde war bis dahin keinerlei Vorkehrung zum Empfang der Verwundeten auf unseren Bahnhöfen getroffen worden, weder Ärzte noch Heilgehilfen, weder Krankenwagen zum Transport, noch irgend andere Lazarettgegenstände waren vorhanden. Wir verschafften uns aus eigenen Mitteln die nötigen Sachen zum Verband; die Damen, welche bis dahin mit fröhlichem Sinn die Erfrischungen gereicht hatten, zupften jetzt Charpie [Wundverbandmaterial], rollten Binden auf und schnitten Heftpflaster. Damals waren antiseptische Mittel und Verbände noch nicht bekannt. —

Da die ersten Verwundeten meist mit rückständigem Sold und ohne jegliche Mittel zur Weiterfahrt anlangten, veranstalteten wir eine Sammlung unter uns und den Gästen, die den Bahnhof besuchten und beschlossen, jedem Verwundeten einen Zehrpfennig mit auf den Weg zu geben und dieselben gratis zu speisen. Auf diese Weise unterstützten wir 1.700 Verwundete.

Nur wenige von uns Frauen vermochten sich an dem Verbinden zu beteiligen; wir waren daher doppelt angestrengt und begrüßten es dankbar, als zwei freiwillige Ärzte, Herr Dr. Jul. Boas und Herr Dr. Plonski uns ihre Hilfe anboten, ebenso wie eine freiwillige Pflegerin, Frau Piper aus Stettin. Außerdem engagierten wir, als die Massenzüge von Verwundeten ankamen, zwei Heilgehilfen.

Schlacht von WörthNach der blutigen Schlacht von Wörth langten die ersten 400 französischen Gefangenen an. Es waren meist Turcos [wikipedia: Spitzname der 1842 – 1964 bestehenden algerischen und tunesischen Schützenregimenter des französischen Heeres], Araber, Zuaven [wikipedia: Zuaven nannten sich die Angehörigen historischer Infanterieeinheiten] und Zephire [?], welche die Franzosen unseren Heeren in den ersten Gefechten entgegengeschickt hatten. Mit sonderbarem Grauen betrachtete man die Zephire, denen der Ruf vorangegangen war, dass sie zu diesem Kriege entlassene Galeerensträflinge seien.

Diese ersten Gefangenen waren meist unverwundet. Ihr grotesker Anblick in den bunten, mannigfachen Trachten, ihr wildes dennoch gleichgültiges Gebaren ließ fast vergessen, dass es Gefangene seien. Man betrachtete sie mit einem Gemisch von Neugierde, Abscheu und Mitleid, und mit der Empfindung, dass es einer zivilisierten Nation wie Frankreich unwürdig sei, die wilden unzivilisierten Elemente eines anderen Weltteils in den europäischen Krieg zu senden.

Von dem Augenblick an, wo massenhaft Gefangene eintrafen, wurde unsere Stellung immer schwieriger, Neugierige drängten sich scharenweise zum Schuppen, schlichen sich bei uns ein, hemmten unsere Tätigkeit und begingen oft Handlungen, für welche wir verantwortlich gemacht wurden.

Wir hatten den Entschluss gefasst, die französischen Gefangenen nicht von unseren jungen Damen, sondern von den Herren bedienen zu lassen; außer aller Frage aber stand es von vornherein, dass wir die verwundeten Franzosen in derselben barmherzigen Weise verpflegen würden, wie die Deutschen. Bald sollten wir hinreichende Gelegenheit haben, den Feinden, wie den Freunden gleich hilfreich beizustehen; denn nach den grausamen Schlachten von Wörth, Metz, Gravelotte, Mars-la-Tour, drängten sich die Züge der Gefangenen und Verwundeten, sie kamen meist unangemeldet, verfrüht oder verspätet, bei Nacht, wie bei Tage. Immer fanden sie uns zu schneller und freudiger Hilfe bereit.

Einmal kam ein Zug von 700 wild aussehender Gesellen, meist sonnengebräunte Seeleute, welche mit ganz besonderer Dankbarkeit und freundlichem Erstaunen sich während der Speisung äußerten; der sie begleitende Offizier sprach uns seine Verwunderung darüber aus, welche Macht unsere liebevolle Aufnahme auf diese aus allen Weltgegenden zusammengekommenen, sonst so schwer zu disziplinierenden Menschen übte, als zuletzt einer aus dieser Truppe auf den Tisch stieg und die anderen in beredten Worten bat, uns ihren Dank in einem fröhlichen Liede auszudrücken, indem er hervorhob, wie gerade den solange heimatlos Umherirrenden die liebevolle Verpflegung patriotischer Frauen wohltuend berühre.

Kam der Abend heran, so lagerten wir uns in irgend einen Waggon, der auf dem Güterbahnhof stand, um am frühen Morgen wieder hilfsbereit zu sein, oder wir suchten ein Lager auf den Erbsensäcken der Speisekammer; an den Kochherden lagen die Köchinnen und Hilfsfrauen, auf den Bänken schlummerten die helfenden Männer, Soldaten, Schutzleute und Beamten. Es schienen plötzlich wie im Dornröschen. Alle in der Stellung, in der sie eben tätig gewirkt hatten, in Schlaf gefallen zu sein. Da erscheint plötzlich der Telegrafenbeamte, auf dem Potsdamer Bahnhof sei ein großer Zug Verwundeter angekommen, der bald bei uns sein würde. Schnell sprangen alle auf, die Feuer wurden geschürt, in den Kesseln ward gerührt. Jeder stellte sich auf seinen Posten.

Oft jedoch dauerte es zwei Stunden nach solcher Ankündigung, ehe der Zug anlangte. Endlich kam er; einige nahmen Wein, um den Verschmachteten entgegenzugehen; andere eilten hinaus zu den Waggons mit Verbandszeug, Wasser und Wäsche. Welch ein Anblick! Hier wurde ein Verstümmelter auf den Schultern hineingetragen, dort schwankte ein anderer zwischen zwei ihn führenden Kameraden, auf einem Stein ruhte ein dritter, den die Füße nicht weiter tragen konnten. Wie flossen unsere Tränen, als wir diesen Verschmachteten den Labetrunk an die Lippen hielten! Nie sind die Blicke zu vergessen, mit denen sie dankten.

Obgleich wir in den wenigen Tagen eine wunderbare Gewandtheit, die Verbände anzulegen, erlangt hatten, reichten unsere Kräfte kaum hin, schnell genug einem nach dem andern der Unglücklichen die nötige Pflege angedeihen zu lassen, da wir nur 4 bis 6 Frauen waren, die sich mit den Verwundeten zu beschäftigen vermochten. Waren diejenigen Verwundeten versorgt, welche sich noch nach unseren Schuppen schleppen konnten, so stiegen wir alsdann in die Waggons, wo die Schwerverwundeten und Sterbenden lagen, oft Franzosen und Deutsche gemischt, und es währte lange Zeit, ehe wir die Reihen der Waggons durchkamen, in denen wir Wunden verbanden, die Unglücklichen wuschen und ihnen reine Wäsche gaben, was sie immer als größte Wohltat empfanden.

So ging manche Nacht vorüber, der Morgen brach herein und wenn wir dann, zum Tode ermattet, zum Bewusstsein dessen kamen, was wir vollbracht, konnten wir es kaum selbst fassen, woher uns die Kraft zu dem schweren Werk gekommen war.

Ein solcher Morgen war es, an welchem ich erschöpft auf einen Holzstuhl sank, — nachdem wir von des abends 8 bis vormittags 11 Uhr drei Züge mit Verwundeten versorgt hatten, welche bald auf dem Ost- bald auf dem Niederschlesisch Bahnhof angekommen waren. Im wahren Sinne des Wortes hatte ich ohne die geringste Erfrischung zu mir zu nehmen oder nur einen Moment zu rasten, fortwährend Wunden verbunden, Erfrischungen verteilt, die Verwundeten gewaschen und ihnen neue Wäsche gegeben. Auch jetzt durfte ich nicht ruhen, denn es galt Bestellungen für den folgenden Tag zu machen, da die Lieferanten, von denen alles herbeigeschafft werden müsste, weitab wohnten. — Da kam ein Herr, der sich als Reporter vorstellte. Er sei von einer Zeitung gesandt, die einen Schmähartikel über unser Verhalten auf dem Bahnhof erhalten habe, des Inhalts, das wir die Franzosen bevorzugt haben sollten und er wolle hören, ob es sich so verhalte. Ich war keines Wortes mächtig und zeigte nur auf die im Schuppen wachhabenden Schutzleute, indem ich sagte: »Bitte, mein Herr! wenden Sie sich an diese Beamten, Sie werden Ihnen mitteilen, was wir hier treiben!« Diese aber gaben dem verblüfften Reporter die rechte Antwort: »Schicken Sie die Herren Zeitungsschreiber nur hierher und lassen sie beobachten, wie unsere Damen sich für unsere Verwundeten aufopfern, dann werden sie die Verleumder schon zurecht weisen!«