Hilfsbuch zur Gründung,

Leitung und Kontrolle von Volksküchen

Lina Morgenstern

Der Durchzug der Truppen

Tag um Tag und Nacht um Nacht dauerte zwei Wochen lang das Durchziehen der nach dem Kriegsschauplatz eilenden Truppen. Wenn kaum in einem Güterspeicher die Speisung vorüber war, so mussten wir über die Eisenbahnstränge zu dem andern hinübergehen, um dort eine zweite zu beaufsichtigen. Dazwischen fehlte es auch nicht an komischen Auftritten. Wir hatten ein photographisches Atelier aufschlagen lassen und der Hoffotograf Herr Jamrath nahm einige Tage hintereinander die buntesten Bilder auf. So geschah es, dass eben ein abrückendes Bataillon aufgenommen werden sollte, als Marschall Wrangel und Fürst Radziwill über den Güterbahnhof daher kamen. Der Photograph hatte seine Platte gerichtet und winkte zum Stillstand; da der Anblick des alten Papa Wrangel in dem bunten Gewühl von Soldaten, Komiteemitgliedern und Beamten eine Bewegung hervorrief, hielt ich den Marschall mit den Worten an: »Papa Wrangel, stillgestanden! Sie werden fotografiert!« Er entgegnete: »Nicht doch, meine Tochter, ich habe ja gar keine Stellung.« Ich antwortete: »Gewiss, Sie haben unter uns eine sehr gute Stellung.« Einen Moment später war das Bild fertig. Mit Rührung wohnte nach diesem Auftritte der alte Herr der Speisung bei.

Da es der lebhafte Wunsch der Soldaten war, die kurze Zeit ihres Verbleibens zu Nachrichten und Briefen nach der Heimat zu verwenden, richteten wir eine Feldpost ein, zu der Herr Generalpostdirektor Stephan uns 50.000 Feldpostkarten zur Verfügung gestellt hatte. Während nun ein Teil der Frauen und Mädchen beschäftigt war, die Näpfe zu füllen, und den Soldaten die Erfrischungen zu reichen, teilten andere Damen Postkarten aus und verrichteten bei denjenigen Soldaten Sekretärdienste, welche selbst nicht zu schreiben vermochten.

Unter den Soldaten waren immer Schwache und Kranke, ohne dass damals ärztliche Hilfe auf unseren Stationen vorhanden gewesen wäre; wir hatten daher eine kleine Feldapotheke, welche eingeführt zu haben das Verdienst der Frau Maria Gubitz war, und die den bei der Hitze auf der Fahrt eng zusammengedrängten Soldaeten oft seht nötig wurde, die aber freilich nur so lange ausreichte, bis die ersten Verwundeten unsere Hilfe in Anspruch nahmen; da wurde auch die Apotheke erweitert.

Einen erhebenden Abschluss unserer Tätigkeit für die zum Kriege hinziehenden Truppen bildete der Besuch unseres Königspaares, welches eine halbe Stunde vorher seine Ankunft hatte anmelden lassen. Es war am 2. August; eilig schmückten wir die Hallen mit Blumen, ein Bataillon Waldenburger Landwehr wurde zur Speisung erwartet.

Inzwischen wurde ich nach dem Niederschlesisch-Märkischen Bahnhof gerufen, wo ein Bataillon Landwehr angekommen. Es waren darunter recht verzagte und bekümmerte Familienväter aus Crossen. Ich sprach ihnen Mut zu und prophezeite die Gefangennahme Napoleons. Die Männer wurden etwas heiterer gestimmt, baten mich inständig, für ihre Frauen und Kinder zu sorgen, wenn sie in Frankreich stürben. Ich musste alle ihre Namen aufschreiben. Dabei war ich selbst in höchster Aufregung, da ich wusste, unser Königspaar konnte jeden Augenblick eintreffen. Daher eilte ich sobald das Bataillon abgefahren war den kürzeren Weg über die Schienenstränge zum Ostbahnhof. Aber da verfehlte ich den Weg, geriet in ein Gewirr von Wagenzügen und werde nie die Todesangst vergessen, den Ausgang nicht wiederfinden zu können. Endlich fand ich den Ausgang. Noch war es nicht zu spät. Der Bahnhofsinspektor Herr Sebald reichte gerade allen Damen Rosen. Ein Bataillon ostpreußischer Landwehr kam an.

Gerade als die Soldaten ihre Plätze eingenommen hatten, erschien das Königspaar, das ich die Ehre hatte, durch die Speisehalle zu geleiten. Leutselig unterhielt sich König Wilhelm mit den Soldaten, kostete von den Speisen, verschmähte auch nicht, ein Seidel Bier anzunehmen, ließ sich die Damen und Herren, welche mit uns wirkten, von mir vorstellen und sagte beim Abschied, in dem er mir und mehreren Vorstandsmitgliedern herzlich die Hand schüttelte: »Die gute Verpflegung, mit welcher Sie unsere Truppen jetzt ermuntern, ist für uns sehr wichtig«, und Königin Augusta fügte hinzu: »Ich gratuliere Ihnen, dass Sie den Tag erlebt haben, an dem das Prinzip Ihrer Volksküchen eine so hohe Bedeutung gewonnen hat.«

Unser Wirken war uns bis dahin vor Allem dadurch erleichtert worden, das die Herren der Etappe, Freiherr zu Puttlitz, von Zollikofer, von Thiesenhausen, sowie der Vorsteher der Linienkommission, Herr Hauptmann Reinecke und die beiden Verpflegungsbeamten Herren Homuth und Kuschke uns in jeder Beziehung auf das Freundlichste entgegenkamen und uns in unserer Tätigkeit unterstützten. Diese war so rastlos, dass wir in den ersten drei Wochen kaum die notwendige Zeit gewannen, nach Hause zu eilen, um uns umzukleiden, und erst in der vierten Woche hatten Beamte und wir es möglich machen können, den Kontrakt wegen der offiziellen Speisung abzuschließen und zu unterschreiben. Von einer Nachtruhe war gar nicht die Rede. Um einen kleinen Begriff jener Erlebnisse zu machen, will ich folgendes anführen:

Es wurde eines Abends 18 Uhr ein Bataillon erwartet, und da den Leuten nur kurze Zeit zur Speisung gegönnt war, müssten wir vor Ankunft auf Kommando das Essen in die Näpfe füllen. Stunde auf Stunde verging, die Truppen kamen nicht; erkaltet stand der Reis, der weder umgefüllt noch aufgewärmt werden durfte. Allmählich zog sich die große Zahl der Komiteemitglieder zurück, zuletzt blieben noch wenige Frauen und Männer. Es wurde 2 Uhr nachts, als endlich der Zug anlangte; aber statt der erwarteten 1.000 Soldaten kamen 1.250, noch nicht eingekleidete Polen, meist in Schafspelzen. Da nun das Essen nur für 1.000 Mann aufgetragen war und wir unser Dienstpersonal, welches viele Nächte durchgearbeitet hatte, gerade in dieser Nacht zur Ruhe geschickt hatten, so mussten Fräulein Böhm und ich es übernehmen, immer wieder und wieder in die Kellerräume zu gehen, um Waschkörbe voll Wurst, Fleisch und anderer Lebensmittel heraufzuschleppen. Glücklich waren wir, als endlich die tobende und durch das reichlich von uns gereichte Bier aufgemunterte Gesellschaft der polnischen Rekruten den Saal verlassen hatte.

Als wir uns jedoch nach der einzigen Ruhestätte unserer Garderobenkammer, umsehen wollten, hatte Herr Leutnant von R. diese einstweilen zur Wachstube für seine Soldaten gemacht, welche in behaglichster Ruhe auf unseren Tüchern lagen, und deren gekreuzte Gewehre uns vor jedem Versuch zurückschreckten, unser Asyl wieder zu erobern. Wir zogen es vor, trotz der Nacht, über die Schienenstränge zu eilen, wo wir uns zwischen Lokomotiven hindurch zwängten, um nach unserer zweiten Station, dem Ostbahnhof, zu gelangen. Hier fanden wir Frau Dr. Elise Abarbanell mit Vorkehrungen zu einer Kaffeespeisung beschäftigt; wir selbst aber waren so von Müdigkeit überwältigt, dass wir das Anerbieten eines Bahnmeisters gern annahmen, der uns einen nicht zu entfernten Salonwagen besteigen ließ. Allein kaum lagen wir hier im Halbschlummer, als ein gellender Schrei mich erweckte und ich die erschreckten Kolleginnen mit Tüchern zum Fenster hinauswehen sah, indem sie mir mitteilten, dass der Zug sich in Bewegung gesetzt habe; zum Glück rangierte er nur und so entronnen wir der Gefahr, nach Königsberg entführt zu werden.