Hilfsbuch zur Gründung,

Leitung und Kontrolle von Volksküchen

Lina Morgenstern

Vierunddreißigjährige Geschichte des Vereins Berliner Volksküchen von 1866

1. Ein Frauengespräch.

Es war am 31. Mai 1866. Drohende Kriegswolken standen am politischen Himmel, energische Vorbereitungen wurden überall getroffen und der ganzen Bevölkerung hatte sich jenes beklemmende Gefühl der Sorge und Angst bemächtigt, das jedem nahenden Unwetter vorangeht. In der Dämmerung jenes Tages besuchte mich Frau Bertha Richter, die Gattin des beliebten, humanen Predigers zu Mariendorf. Wir sprachen über den drohenden Bruderkrieg mit Österreich.

»Es wird ganz entsetzlich werden!« sagte ich. »Schon ist in allen Geschäftsverhältnissen eine Stockung eingetreten und man begegnet hunderten von brotlos gewordenen Arbeitern.«

»Nun lassen Sie erst alle kriegsfähigen Männer zur Armee gerufen werden, da sehen sich tausende Familien in Not und Elend, die von der Hand in den Mund leben und die nun nicht ein Stücklein Brot zu Hause haben. Mit der Kriegsfurie ziehen voraussichtlich Not, Hunger und Krankheit ins Land!«

»Nun, liebe Frau Prediger, was können wir Frauen da tun, um vorzubeugen und jede Not in unserem Kreise zu lindern?«

»Um mich mit Ihnen über diese Frage zu unterhalten, kam ich nach der Stadt. Am fühlbarsten für uns Hausfrauen wird die Verteuerung der Lebensmittel sein, da wir nicht wissen, wie die Verkehrswege abgeschnitten werden. Darunter leiden die Armen am meisten. Auf dem Lande gilt es nun, den Dorfbewohnern die Möglichkeit zu schaffen, auch während der Kriegszeit ihren Nahrungsbedarf aus billiger Quelle zu beziehen. Ich will deshalb Proviant in Massen einkaufen und lasse den armen Familien von Mariendorf die Waren dann für den Selbstkostenpreis ab.«

»Das ist auf dem Lande vortrefflich,« sagte ich, »in der großen Stadt aber würden wir dadurch die Kaufleute noch mehr schädigen, als es der Krieg tut. Doch halt, ich habe eine Idee, wenn sich diese ausführen ließe?«

»Sprechen Sie!« rief Frau Richter.

»Wenn unsere Landwehr- und Reservistenfrauen ihre Männer dem Vaterlande hergeben, wird die erste Sorge sein: Wie stille ich den Hunger der Kinder? Wenn Tausende durch den Krieg verarmen, wird die Flamme am häuslichen Herd verlöschen. Diesen Tausenden in einer Küche die Hauptmahlzeit des Tages zu bereiten, mit fürsorglicher Liebe darüber zu wachen dass die Speisen schmackhaft, genügend und auf die billigste Weise hergestellt und verkauft werden — das will ich tun!«

»Dies ist ein köstlicher Gedanke,« rief Frau R. »wenden Sie alle Energie an, ihn auszuführen: aber Eines, liebe Frau! Verschenken Sie nichts! Wir müssen die Leute nicht von vornherein zu Bettlern machen! Leben Sie wohl! Wir gehen beide an unser Werk — ich aufs Land, um Lebensmittel zu verkaufen und für die Dorfbewohner zu sorgen, Sie führen in der Stadt ihren Plan aus, für das Volk zu kochen!«

Da war plötzlich eine Begeisterung über mich gekommen.

Mit glühenden Wangen saß ich in der Dämmerung und durchdachte den Plan. »O Gott, lass mein Werk gelingen, gib mir die Kraft, es durchzuführen!«

Es ertönten die Stimmen meiner Kinder. Die Älteste war damals 11 Jahre; der Jüngste 1 Jahr; ich hatte deren fünf. Ich eilte in die Kinderstube und als ich die Kleinen, wie jeden Abend, zur Ruhe brachte, erfüllte ich meine mütterliche Pflicht wohl zum ersten Mal mit Nebengedanken. Ich sah im Geiste die Kinder der unzähligen Armen, von denen der Vater Abschied nahm, um in den Kampf zu ziehen, ich sah die wehklagenden Mütter, die mit Sorge und Kummer auf ihre Kinder blickten, denen der Ernährer so plötzlich entzogen war, — ach, bald wird Not in ihre Hütte einziehen — sie werden sich nicht zu helfen wissen! Wohlan, ich will ihnen helfen, dass sie wenigstens nicht hungern brauchen!

2. Die ersten Schritte.

Die Nacht verbrachte ich schlaflos. Am anderen Morgen entwarf ich einen Aufruf zur Begründung von Volksküchen und eilte damit in die Redaktion der Vossischen Zeitung. Dr. Otto Lindner † (Anmerkung: Alle diejenigen Männer und Frauen, welche bereits gestorben sind, bezeichne ich bei der erstmaligen Aufführung mit einem Kreuz.), der damalige Hauptredakteur, empfing mich mit Freundlichkeit und hörte aufmerksam zu, als ich ihm meinen Plan vorlegte und ihn bat, den Aufruf aufzunehmen.

»Das will ich gern tun und Ihnen in jeder Beziehung beistehen, aber der Aufruf würde nicht den geringsten Erfolg haben, wenn er nicht von einflussreichen Männern und Frauen unterzeichnet ist.«

»Nun gut, so will ich Menschen suchen!« erwiderte ich; — aber das dachte ich mir leichter, als es auszuführen war. Die Einen antworteten mir: »Wie, Sie wollen jetzt etwas tun, wo Deutsche gegen Deutsche kämpfen sollen?« Die Anderen zuckten die Achseln: »Der Plan ist gut, aber man muss jetzt vorsichtig sein. Wenn Sie meine politischen Freunde gewinnen können, dann gebe ich auch die Unterschrift!« usw.

Auf meiner Wanderung am 1., 2., 3. und 4 Juni kam ich endlich zum Eisenbahndirektor a. D. Herrn Joseph Lehmann †, damaligem Chefredakteur des »Magazin des Auslands«. Er war nicht zu Hause. Seine Gattin und seine Töchter empfingen mich mit herzlicher Teilnahme, und ich benutzte die Zeit, bis Herr Lehmann heim kehrte, um meinen Aufruf umzuändern und auszuarbeiten. Es währte nicht lange, da kam der edle Mann der erste der meinen Plan mit der Herzenswärme eines Jünglings auffasste. »Gewiss, gewiss bin ich dabei, aber —« so sagte er mit der ihm eigenen Bescheidenheit. »erst müssen andere Namen dem meinen vorangehen, suchen sie Twesten, Virchow, von Holtzendorff, Präsident Lette usw. auf.«

Nun ging ich zum Stadtgerichtsrat Twesten †. Welch einen wohltuenden, liebreichen Eindruck machte dieser edle Mann. Nachdem ich ihm mein Anliegen vorgetragen, rief er: »Mit Vergnügen gebe ich Ihnen meinen Namen. Sie haben ein vortreffliches Werk vor, harren Sie nur aus, es wird gelingen!«

Ich fasste Mut und suchte Professor Virchow auf. Auf's Liebenswürdigste wurde ich empfangen, die so gewichtige Unterschrift wurde gegeben, nachdem ich auseinandergesetzt hatte, dass es sich nicht um Suppenanstalten oder Almosenküchen handle, sondern um wirtschaftliche Hilfe und dass die zu gründenden Küchen auf Selbsterhaltung einzurichten seien.

Rudolf VirchowProfessor Virchow riet mir, so energisch und schnell als möglich vorzugehen, und wir besprachen eine vorberatende Versammlung, am 6. Juni in meiner Wohnung, Leipzigerstraße 73. Von Virchow begab ich mich zu Franz Dunker †, Prof. von Holtzendorff †, Dr. Max Ring, Jacques Meyer † und andere mehr, die ich alle für die Errichtung der Volksküchen gewann und zu einer Versammlung in unserer Wohnung zum 6. Juni einlud. Es erschienen die Herren Stadtgerichtsrat Twesten, Professor Virchow, Präsident Lette †, Eisenbahndirektor Joseph Lehmann und seine Frau Johanna †, Prof. von Holtzendorff, Dr. M. Rosenberg †, Strohhutfabrikant Elster †, Assessor Lehfeldt †, Fabrikant Soltmann † und Jacques Meyer.

Ich legte den Herren meinen Plan in einem Statutenentwurf und in einem Aufruf an die Männer und Frauen Berlins vor. Das Protokoll dieser denkwürdigen Sitzung, welches Assessor Lehfeldt geführt hatte, lautete:

»Frau Morgenstern bat Herrn Twesten, den Vorsitz zu übernehmen und Lehfeldt, das Protokoll zu führen, was beide übernahmen. Sie legte der Versammlung den Vorschlag vor, nach Art der Konsumvereine Volksküchen zu errichten, mit dem Prinzip: ärmeren Personen durch gemeinschaftlichen Ankauf von Nahrungsmitteln gute und billige Nahrung zu verschaffen. Der beiliegende Aufruf von ihr wurde verlesen und die Debatte eröffnet.
Das Resultat war, dass der Entwurf eines Statuts mit den in der Anlage präzisierten Grundsätzen beschlossen wurde; dass eine öffentliche Versammlung am Dienstag den 12. Juni 1866 im Saale des Handwerkerverein, Sophienstraße 15, stattfinden und dieser die Konstituierung eines Zentralkomitees durch einzuladende Vertrauenspersonen am Freitag den 9. Juni 1866 im Englischen Hause, Mohrenstraße 49, vorausgehen soll.
Das Statut des Zentralkomitees soll dann als Definitivum [endgültiger Zustand] der öffentlichen durch den Aufruf einzuladenden Versammlung vorgelegt werden. Die Redaktion des Statutenentwurfs unternahmen die Unterzeichneten, die des Aufrufs Frau Morgenstern.
Schluss der Versammlung nach 10 Uhr.«
Twesten. — L. Lehfeldt.

In der zweiten Versammlung am Freitag den 8. Juni 1866 wurde von den Eingeladenen Präsident Lette provisorisch als Vorsitzender, Assessor Lehfeldt als Schriftführer gewählt. An der Debatte über den Statutenentwurf und den Aufruf beteiligten sich Buchdruckereibesitzer Krause †, Dr. Max Ring, Professor Virchow, Jacques Meyer, von Hennig †, Lina Morgenstern.

Es wurde beschlossen, das Unternehmen im ganzen Umfang des Planes der Gründer anzunehmen. Zweck des Vereins: Errichtung von Volksküchen in allen Stadtteilen, wo es Bedürfnis, um gesunde, nahrhafte, schmackhafte Speisen zum Selbstkostenpreis an Jedermann zu verkaufen. Ziel des Vereins: Selbsterhaltung der Küchen, Beschaffung des Grundkapitals durch Sammlung freiwilliger Beiträge. Verwaltung und Leitung durch freiwillige Tätigkeit.

Der noch einmal redigierte Aufruf wurde den Zeitungen übergeben und von einem provisorisch gewählten Zentralvorstand unterzeichnet, welcher zu einer ersten öffentlichen Versammlung am 12. Juni einlud.

Die Wahl des ersten Vorstandes fiel auf Herrn von Hennig als Vorsitzenden, Jacques Meyer, dessen Stellvertreter, Emil Soltmann, Schatzmeister, Assessor Eugen Richter als ersten und Dr. Rosenberg als zweiten Schriftführer, und die Damen: Frau Lina Morgenstern, Johanna Lehmann und Agnes Augustin als Mitglieder des engeren Ausschusses.

Der Aufruf lautete:

Mitbürger Berlins!

Infolge des drohenden Krieges sind viele Einwohner, welche dem Arbeiter- und kleinen Gewerbestande angehören, in unverschuldete Not geraten. Zur Stockung im Erwerb ist eine Teuerung der notwendigsten Lebensmittel hinzugetreten. Der Druck dieser Verhältnisse dürfte zweckmäßig auch dadurch zu mildern sein, dass man auf genossenschaftlichem Wege den einzelnen Haushaltungen den Einkauf und die Zubereitung der Nahrungsmittel zum Engrospreis ermöglicht.

Die unterzeichneten Männer und Frauen haben sich deshalb zu einem Komitee für Errichtung von Volksküchen vereinigt, in denen Jedem ohne Unterschied Speisen zum Selbstkostenpreise verabreicht werden sollen. Unsere Aufgabe wird zunächst in der Beschaffung der nötigen Geldmittel bestehen, um den für die einzelnen Stadtteile sich bildenden Komitees das zur Einrichtung der Volksküchen erforderliche Kapital zur Verfügung zu stellen. Wir glauben, dass es nur dieser wenigen Worte bedarf, um den Gemeinsinn unserer Mitbürger für die tätige Unterstützung unseres Unternehmens anzuregen. Zur weiteren Besprechung laden wir alle Frauen und Männer, welche sich dem oben bezeichneten Unternehmen anschließen wollen, zu einer Versammlung, die am Mittwoch, den 13. Juni im Englischen Hause, abends 7 Uhr, stattfindet. Wir rechnen besonders auf die Beteiligung der Vorsteher der Konsum- und Bezirksvereine.

Beiträge werden schon jetzt bei den Unterzeichneten entgegengenommen. Wir freuen uns, mitteilen zu können, dass zur Errichtung der ersten Volksküche uns bereits Lokal und Einrichtung von einem unserer Mitglieder gratis zur Verfügung gestellt sind.

Berlin, den 8. Juni 1866.

Dieser Aufruf hatte zur Folge, dass die Versammlung am 12. Juni überaus zahlreich besucht und an diesem Tage der Verein definitiv konstituiert wurde.

Der in dieser Versammlung gewählte engere Ausschuss erließ am 21. Juni folgenden zweiten Aufruf:

»Dem unterzeichneten Komitee für Volksküchen ist es gelungen, in kurzer Zeit die Mittel zur Einrichtung der ersten vier Volksküchen aufzubringen. Es ist zwar erst ein kleiner Anfang, aber doch ein Anfang. In längstens zehn Tagen, so hoffen wir, wird es möglich sein, die ersten Küchen baulich fertig zu stellen und in ihnen mit der Verabreichung der Speisen zu beginnen. Jede dieser Küchen soll für die Zubereitung von 1.000 bis 1.200 Portionen eingerichtet werden und haben wir nach einem vorläufigen Überschlage angenommen, dass die Errichtung von 10 bis 12 derartigen Anstalten in den verschiedenen Stadtteilen Berlins das Bedürfnis decken wird.

Es ist unsere Absicht, in den Küchen fertige Speisen auszugeben. Jede Portion soll ein Quart [1,145 Liter] Inhalt haben und aus Kartoffeln, Gemüse und Fleisch gut und kräftig zubereitet, bestehen. Der Preis einer solchen Portion wird sich nach ungefährer Berechnung auf noch nicht 2 Silbergroschen stellen. In den Küchen selbst sollen die Speisen nur gegen Marken verabreicht werden. Dadurch dürfte es auch möglich sein, dass mildtätige Personen, welche Arme unterstützen wollen, an den Kassen Marken kaufen, um diese statt baren Geldes zu verteilen.

Soll unser Unternehmen erfolgreich sein, so bedürfen wir nach einer ungefähren Berechnung 12 – 14.000 Taler. In einer so großen Stadt wie Berlin wird das wohl zu erreichen sein. Wir bitten deshalb unsere Mitbürger sich nach Kräften durch Zeichnung von einmaligen und laufenden Beiträgen an demselben zu beteiligen.

Vorzeiger dieses ist ermächtigt, Zeichnungen entgegenzunehmen und über Geldzahlungen zu quittieren. Die gesammelten Gelder sind an unseren Schatzmeister, Herrn Soltmann, Hollmannstraße 26/27 abzuführen.

Berlin, den 13. Juni 1866.

Im Auftrage des Komitees der Volksküchen.

Der engere Ausschuss:

Die Sammlungen freiwilliger Beiträge ergaben 4.359 Taler 15 Silbergroschen oder nach jetzigem Gelde 13.078 Mark 50 Pfennig. Dies war das Gründungskapital. Laufende Beiträge sind jedoch nie für den Verein gegeben oder eingezogen worden, da derselbe es bei der bald erreichten Selbsterhaltung seiner Anstalten nicht notwendig hatte.