Motive zur Begründung der Volksküchen
a. Hilfe bei dauerndem und vorübergehendem Notstand
Zu allen Zeiten, in denen der Notstand die Frage der Armenpflege in den Vordergrund schob, war es zunächst die Ernährung, als notwendigstes Lebensbedürfnis, welchem Behörden und Humanität ihre Aufmerksamkeit zuwenden mussten. Hängt doch von der Ernährung des Volkes der Gesundheitszustand aller Gesellschaftskreise ab; die traurigen Folgen von Hungersnot oder Notzeiten sind die bösartigsten epidemischen Krankheiten. Dies sehen wir am meisten sich im Norden bewahrheiten, wo die Bedürfnisse an Nahrung, Feuerung und Kleidung weit größere sind, als im Süden und der Notstand unter der ärmeren Bevölkerung fast bei jeder Missernte ausbricht.
Die Frage der Ernährung großer Massen und die billige Herstellung nahrhafter Speisen für Arme beschäftigte schon am Ende des vorigen Jahrhunderts den berühmten Physiker und Philanthropen Benjamin Thompson Graf zu Rumford, einen geborenen Amerikaner (der vereinigten Staaten, englischer Abkunft), der sich besondere Verdienste um das allgemeine Wohl erwarb, als er, an den Hof des Kurfürsten von Bayern empfohlen, bemüht war, die Not der Armen zu lindern durch die Einführung der Kartoffeln, Erfindung von Sparöfen und endlich durch Mischung der sogenannten Rumfordsuppe. Bei dieser Suppe kam es weniger auf die Menge fester Nahrungsstoffe, als auf die Mischung, sowie auf das gehörige Quantum Wasser und die Behandlung des Feuers an. Es wurden zu derselben wenig Fleisch, viel Fett, Knochen, Gemüse, Kartoffeln und Hülsenfrüchte verwandt. Graf Rumford gab Veranlassung zu den Suppenanstalten, die vorzugsweise in den Notjahren 1818, 1846, 1847 und später in vielen Städten Deutschlands eingerichtet wurden, um bei ehrlicher Verwaltung und guter Zubereitung eine Wohltat der Darbenden zu sein. In einzelnen Städten, wie z. B. in Leipzig, in Chemnitz und besonders in Hannover durch Georg Egestorff, wurden seit dem Jahre 1848 allgemeine Koch- und Speiseanstalten zu Gunsten der Arbeiter eingerichtet, die sich auch zum Teil trefflich bewährten und den ersten anerkennenswerten Versuch machten, das Speisebedürfnis der Bedürftigen nicht nur durch Almosenanstalten, sondern durch wirtschaftliche Hilfe zu befriedigen. Ihre soziale Bedeutung jedoch erhielten die Speisekonsumanstalten erst seit dem Jahre 1866, als in der Verfasserin dieses Buches der Gedanke entstand, »Volksküchen« zu gründen, die keine Beziehung zum Almosenwesen haben dürften, um jedem Unbemittelten, welchem Stande er auch angehöre, die Erleichterung zu gewähren, aus diesen Küchen nahrhafte Speisen zu den billigsten Preisen, also zum Selbstkostenpreis, zu entnehmen. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Bewegung, in denen die Verarmung Einzelner von den allgemeinen Verhältnissen abhingt, sind solche soziale Wohltaten die allgemein nützlichsten, während Almosenspenden von dem noch erwerbenden Arbeiter mit gerechtem Selbstgefühl zurückgewiesen würden.
Wohl war ich mir bewusst, dass bei Einrichtung derartiger Anstalten alles auf die Energie und Ausdauer einer selbstlosen Verwaltung ankommen würde und dass mit dem Gelingen der Speise-Konsumanstalten für den wenig Bemittelten die öffentliche Wohlfahrt und die Mitwirkung der Frauen auf dem Gebiete der Armenpflege in ein neues Stadium treten werde. Von der Ernährung der Arbeiter hängt ihre Gesundheit, Stimmung und Kraft ab; konnte der Beweis gegeben werden, dass bei redlicher Verwaltung gute, kräftige, sättigende Speisen für einen verhältnismäßig unerhört billigen Preis herzustellen seien, so musste auch die Armenpflege in Krankenhäusern, Waisenanstalten, sowie Beköstigung in Kasernen und Gefängnissen einer sorgfältigeren Kontrolle unterworfen werden.
Der freien Vereinstätigkeit erwächst die dringende Verpflichtung, das Los derjenigen zu erleichtern, welche trotz aller persönlichen Anstrengung das Ziel der Selbsterhaltung kaum, oft nur unter den unsagbarsten Entbehrungen erreichen und unter der Last der Sorgen zu erliegen drohen. Auch der Staat und die Gemeinde müssen ihrerseits Veranlassung nehmen, jedem, dem die Flut des Unglücks die letzte Habe fortzuschwemmen droht, die Möglichkeit zu gewähren, eine Brücke zur Umkehr in das Bereich der Selbsterhaltung zu bauen. Es gilt, dem redlich strebenden, unbemittelten Arbeiter die Befriedigung der notwendigsten Lebensbedürfnisse zur Erhaltung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit zu verschaffen und den Arbeitsunfähigen, Kranken, Gesunkenen zu stützen, ihn nicht inmitten einer Gesellschaft verhungern und untergehen zu lassen, in welcher so viel des Überflusses vorhanden ist.
Drei Bedürfnisse sind es, von deren Befriedigung die Erhaltung jedes menschlichen Daseins physisch abhängt:
- Nahrung,
- Kleidung,
- Obdach.
Wer unfähig ist, diese drei genügend zur Lebenserhaltung zu erwerben, der verfällt der öffentlichen Armenpflege; er befindet sich im Notstand. Wird er nicht rechtzeitig gerettet, so geht er und seine Familie unter, oft genug nicht nur materiell, sondern er wird zum Verbrecher. Die Statistik weist nach, dass mit dem Steigen der Lebensmittelpreise und mit der zunehmenden Brot- und Arbeitslosigkeit das Verbrechertum wächst. Die Sorge für die Armen und die Verarmenden ist daher eine der wichtigsten Angelegenheiten nicht nur der Humanität, sondern der Volkswirtschaft und des Gemeinwohls.
Die Armenpflege hat zwei Wege zu helfen, den der wirtschaftlichen Hilfe — und den der Almosenspende.
Unterstützung durch Almosen oder Geschenke ist der letzte Rettungsanker des gänzlich Versinkenden; unverständig und ohne Prüfung der Verhältnisse gereicht, wirkt sie verschlimmernd auf die allgemeinen Zustände, stumpft das Ehrgefühl der Einzelnen ab, macht oft leichtfertig, träge und arbeitsscheu; dagegen wird die Unterstützung zum Segen. wenn sie rechtzeitig auch die wirtschaftliche Verbesserung herbeiführt, die den Empfänger wieder in den Stand des Erwerbens setzt; die wirtschaftliche Hilfe erniedrigt nicht, sie erhebt vielmehr. Das Mittel zur Erlangung der persönlichen Unabhängigkeit und sittlichen Freiheit ist die Selbsterhaltung, wer aber von Unterstützungen und Almosen lebt, fällt Anderen zur Last, verliert das schöne Bewusstsein der Selbstständigkeit, ist ein Armer, ein sich auf Andere Verlassender, ein — ohne Beistand Verlassener.
b. Volksküchen und Notstandsküchen.
Die Volksküchen haben die Aufgabe, dem wenig Bemittelten wenigstens einmal am Tage eine kräftige, gesunde, ausreichende Kost zum billigsten Preise zu verkaufen, wie er sie sich nirgend billiger und besser verschaffen kann. — Damit jeder diese Anstalten ohne Scheu und Verletzung des Ehrgefühls benutzen kann, dürfen sie nichts verschenken, nichts gemein haben mit Almosenspende. — Sie dürfen deshalb auch nichts umsonst fortgeben, weil sie den Charakter der Selbsterhaltung zu wahren, und auf den Ertrag durch den Konsum angewiesen sind. Zur Errichtung einer Volksküche sollte überall, wo das Bedürfnis sich zeigt, ein Einrichtungs- und Baukapital hergegeben werden, sei es vom Staat und der Gemeinde oder auf dem Wege von freiwillig geschenkten oder geliehenen Stiftungsgeldern; bei Fabriken dagegen muss die Volksküche durch Assoziation des Arbeitgebers mit den Arbeitern den Betrieb erhalten, was am wirtschaftlichsten wäre. Wird sie alsdann nicht genügend benutzt, so ist sie entweder schlecht geleitet, die gelieferten Speisen genügen nicht, oder — sie ist örtlich kein Bedürfnis. Indirekt kann und soll die Volksküche neben der wirtschaftlichen Aufgabe gut ernährende, schmackhafte Speisen zum Selbstkostenpreis zu liefern, auch zur Wohltat für Almosenempfänger werden, wenn Gemeinde, Vereine oder private Wohltäter zur Speisung Notleidender, ihre Gaben in Anweisungen auf freie Kost in den Volksküchen austeilen, wodurch zugleich der Konsum vermehrt und das Bestehen der Anstalt auch da gesichert wird, wo sie sich als notwendig und wünschenswert zeigt, aber nicht genügend kaufende Konsumenten vorhanden sind, um die Ausgaben durch die Einnahmen zu decken. Grundsatz muss es hierbei sein, dass das kaufende Publikum nicht durch die Almosenempfänger belästigt werde, d.h. sie gar nicht zu erkennen Veranlassung habe, um nicht abgeschreckt zu werden, eine Anstalt für Geld zu benutzen, welche dem Almosenempfänger durch Wohltaten zugänglich ist. Auch auf die Almosenempfänger wirkt es sittlich hebend, sich nicht als Ausgestoßene behandelt zu sehen.
Notstandsküchen dagegen, welche nur errichtet werden, um eine augenblickliche Unterstützung zu gewähren, bedürfen außer dem Anlagekapital einen genügenden Betriebsfonds, der durch regelmäßige Beiträge und Geschenke, durch Gemeinde- und Vereinsgelder aufgebracht werden muss. Denn wenn sie selbst neben dem Almosenspenden einen Verkauf Von Speisen einrichten, so wird derselbe schon um deshalb nicht genügend benutzt werden, weil
- der Erwerbende sich scheuen wird, aus der Armenküche zu holen,
- weil bei herrschendem Notstand auch die Mittel des Einzelnen zum Kauf nicht ausreichen und
- weil niemand da wird kaufen wollen, wo die Anstalt selbst sonst verschenkt. In Notstandsküchen die man auch dem kaufenden Publikum zugänglich machen will, wird man ganz entgegengesetzt, wie bei dem Prinzip der Volksküchen, den Verkauf örtlich von der unentgeltlichen Verteilung trennen müssen, wie dies in der Volksküche in Karlsruhe, unter dem Protektorat der Frau Großherzogin Luise von Baden, geschieht.
In richtiger Würdigung, dass die freie Gewährung genügender Nahrung geeignet sei, besser als jede bare Unterstützung, den Gesundheitszustand der Notleidenden wieder herzustellen und die gesamte Bevölkerung an eine zweckentsprechende Ernährung zu gewöhnen, um sie arbeitstüchtiger, also auch erwerbend zu machen, hatten die vaterländischen Frauenvereine während eingetretener Notstände nicht nur Armenspeisungsanstalten und Schulküchen errichtet, sondern wo es sich als Bedürfnis zeigte, dieselben nach Beendigung des Notstandes in Volksküchen verwandelt. Sie ließen es sich überhaupt angelegen sein, in den verschiedensten Orten ihrer Wirksamkeit Suppenanstalten zu errichten, wo ohne Entgelt Kranke, Hilflose und Arbeitsunfähige gespeist werden, so dass sie den Behörden die Last für die Pflege derer erleichterten, welche sonst denselben anheimgefallen wären. Als eine wesentliche Aufgabe der Vaterländischen Frauenvereine im Frieden wäre an allen Orten die Errichtung von Volksküchen als wirtschaftliche, auf Selbsterhaltung beruhende Anstalten zu empfehlen, wie sich solche in Berlin glänzend bewährten — und damit nicht nur materiell das Volkswohl gefördert, sondern zur Lösung der sozialen Frage beigetragen, die, wie zuerst erwähnt, fast immer eine Brot- und Magenfrage ist. — Nur wo gut kontrollierte Speisen, schmackhaft zubereitet, in gesundheitlich fördernder Zusammenstellung genügend verabreicht werden, sind Volksküchen und Massenspeisungs-Anstalten eine wahre Wohltat.
Durch sie soll die große Masse erkennen, von welchem Einfluss auf die Gesundheit und Leistungsfähigkeit eine gut nährende Kost ist.
Alle gemeinnützigen Massenspeiseanstalten müssen eines gemeinsam haben, das ist die Güte der Speisen und die Sorgfalt der Leitung. Ihr Bestehen und Gedeihen sind abhängig von der Befähigung, dem praktischen Verständnis, der Fach- und Ortskenntnis, der Berechnung, der Rechtschaffenheit und Gewissenhaftigkeit, dem Ordnungssinn, der Energie und Ausdauer einer selbstlosen Verwaltung durch freiwillig wirkende Vorstände und Aufsichtsdamen sowie von dem Grade der Treue der übernommenen Pflichten derer, welche speziell die Küche leiten und regelmäßig bis ins Kleinste kontrollieren. Es gilt, mit der ganzen Kraft persönlicher Arbeit für das Gemeinwohl einzutreten.
Das Ideal der Zukunft für organisierte Arbeiter ist die Genossenschaftsküche, welche ohne Mithilfe der Besitzenden von den Konsumenten gegründet und selbstverwaltet wird.